Inhalt:
- 1.1 Defintion: Mise-en-image
- 1.2 Die verschiedenen Einstellungsgrößen
- 1.3 Objektive
- 1.4 Ästhetiken der Kameraführung
- 1.5 Kameraperspektiven
- 1.6 Zeitlupe und Zeitraffer
- 1.7 Weitere Gestaltungsmittel der Mise-en-image
1.1 Defintion: Mise-en-image
Der Begriff Mise-en-image meint alle auf die Kamera bezogenen Inszenierungsmöglichkeiten. Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum von Karl Prümm dezidiert in Abgrenzung zu dem geläufigen Begriff der Mise-en-scène in die Diskussion gebracht. In seinem Aufsatz „Von der Mise en scène zur Mise en image. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie und Filmanalyse“1 schreibt er:
„Der Vorgang, den dieser Begriff bezeichnet, ist auf das Materielle des Bildes konzentriert, auf seine Technizität, auf die Bildformen, die Bildstrukturen, die Bildsegmente, auf die Differenzierungen des Lichts, auf die Farbstufungen und Farbkontraste. Damit ist ein anderer Blick etabliert, der auf die Dynamik des Bildes gerichtet ist, auf die Bewegungen und Zusammenhänge über die Mediengrenzen hinweg, auf die Genealogien der Bilder, auf die ikonographischen Traditionen. Das ist ein ganz anderer Blick, der die Bildfindung und Bildherstellung, der das Gemachte, die Techniken und Ordnungen des Bildes erfasst, der die lange eingeübten Betrachtungsweisen transzendiert, ein Blick, der erst gelernt werden muss.“2
1.2 Die verschiedenen Einstellungsgrößen
Die Bezeichnungen der Einstellungsgrößen stammen aus der Filmproduktion. Sie dienen den Filmschaffenden der groben Orientierung bei der Einrichtung des Sets.
In der Literatur zur Filmanalyse unterscheiden sich die Bezeichnungen der Einstellungsgrößen von Buch zu Buch etwas (siehe dazu Film- und Fernsehanalyse von Lothar Mikos3). Die folgende Auflistung ist eine Zusammenstellung aus Knut Hickethiers Film- und Fernsehanalyse 4 und Kamp/Rüsels Vom Umgang mit Film 5.
Großaufnahme: Die Großaufnahme zeigt nur den Kopf einer Figur. Diese Einstellungsgröße konzentriert sich in der Regel ganz auf die Mimik einer Figur.
Der ungarische Dramatiker, Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Filmtheoretiker Béla Balázs räumt in einem seiner wichtigen filmtheoretischen Texte, Der sichtbare Mensch [1924], der Großaufnahme zentralen Stellenwert ein, wenn er schreibt: „Die Großaufnahmen sind das ureigenste Gebiet des Films.“6 Sind Balàzs‘ Schriften noch ganz dem Geist der frühen Filmtheorieschreibung verpflichtet, die sich zumeist um eine Bestimmung der Spezifität der noch jungen Kunst bemüht, beschäftigen sich In der modernen Filmwissenschaft etwa kognitionstheoretisch orientierte Filmwissenschaftler wie Carl Plantinga mit der Suche nach Erklärungen, warum die Großaufnahme derart wirkungsmächtig sein kann. In seinem Aufsatz „Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film“7 bestimmt er die Wirkung der Großaufnahme dramaturgisch, wenn er feststellt, dass ihr gerade am Filmende besondere Wirkungsmacht zukommt und unterstützt die These Balàzs‘, an den er übrigens anknüpft, durch Erkenntnisse aus der Psychologie zur zwischenmenschlichen Interaktion. Hier geht’s zum Text von Plantinga…
Der Begriff der Großaufnahme ist hier im weitesten Sinne als Darstellung menschlicher Mimik aber auch Gestik zu verstehen. Hitchcock etwa arbeitet auch mit Detailaufnahmen der Hände, um die Anspannung einer Figur zu suggerieren, wie der Ausschnitt aus The Man Who Knew Too Much (USA 1956, Regie: Alfred Hitchcock) zeigt.
Mischformen: Man sollte unbedingt beachten, dass Einstellungsgrößen im wahrsten Sinne des Wortes immer subjektiv sind d.h. sie beziehen sich auf bzw. gehen von einem Subjekt (Bezugspunkt) aus. Dadurch kann man einer Einstellung durchaus mehrer Einstellungsgrößen zuordnen. Das Bild zeigt beispw. eine Großaufnahme (bezogen auf die Frau) oder aber eine Nahaufnahme (bezogen auf den Mann).
Auch sind die Übergänge oft fließend und die Bestimmung der Einstellungsgröße damit doppelt subjektiv. So könnte man die nebenstehende Einstellung durchaus noch als Halbtotale identifizieren aber auch eine Einordnung als Totale wäre möglich.
Special: die Italienische. Diese Einstellungsgröße bezeichnet im Grunde eine Detailaufnahme der Augen. Der Begriff entstand durch die relativ häufige Verwendung solcher Aufnahmen in Italo-Western8.
1.3 Objektive
Es wird zwischen drei Objektivsorten unterschieden: Normalobjektive (middle-focal-length/medium lens), die unserem natürlichen Sehen am nächsten kommen, Weitwinkelobjektive (short-focal-length/wide-angle-lens) und Teleobjektive (long-focal-length/telephoto lens. Weitwinkelobjektive haben eine kurze Brennweite, nehmen Licht aus einem breiteren Winkel auf und haben dementsprechend einen größeren Abbildungsradius. Durch den größeren Einfallwinkel kommt es aber auch zu Verzerrungen der Linie, insbesondere am Rand des Bildes. Beim Fischauge, einer extrem kurzen Brennweite kommt dieser Effekt besonders zum Tragen (entspricht etwa der Sicht durch einen Türspion). Weitwinkelobjektive haben einen größeren Schärfenbereich.
Teleobjektive haben eine lange Brennweite, der Einfallwinkel für das Licht ist wesentlich geringer. Gegenstände erscheinen näher und das Bild insgesamt flacher, da die Tiefenschärfe geringer ausfällt.
In dieser Szene aus The Sixth Sense (USA 1999, Regie: M. Night Shyamalan) verstärken extreme Weitwinwinkelaufnahmen die Sichtweise des kleinen Jungen auf die Situation, die er als bedrohlich empfindet. Allerdings sind nicht nur die Einstellungen, die als point-of-view der Figur Cole (Haley Joel Osment) (Abb. 1, 3 und 5) inszeniert sind mit einem Weitinwinkelobjektiv aufgenommen, auch die Aufnahme, die Cole ungefähr aus der Perspektive des Lehrers zeigt (Abb. 4) ist deutlich mit Weitwinkel gefilmt. Bei Abb. 1, die den Lehrer aus Untersicht zeigt, ist die Verwendung eines Weitwinkelobjektivs vor allem im Hintergrund an den Kanten des Raums, die rechts und links im Bild nicht genau senkrecht verlaufen sondern jeweils nach unten hin zum Bildrand hin verlaufen. Abb. 3 und Abb. 5 greifen diese Perspektive wieder auf, jedoch ist der Effekt noch dramatischer, weil die Kamera jetzt noch leicht verkantet ist und der Raum dadurch regelrecht schief zu stehen und gebogen zu sein scheint. Die Decke geht nach oben rechts weg und auch der Kopf des Junge rechts im Bild, der den Lehrer anschaut, ist leicht verzerrt. In Abb. 4, die Cole in Nahaufnahme zeigt, wird der Effekt des Weitwinkelobjektivs vor allem durch die Verzerrungen des Kopfes der Figur deutlich, das sich recht nahe an der Kamera befindet. Das Gesicht wirkt normal groß, der Kopf verjüngt sich aber drastisch nach hinten und auch der Körper wirkt etwas zu klein.
Diese Verzerrungen unterstützen selbstverständlich die Inszenierung der Situation zwischen Schüler und Lehrer, die zunehmend außer Kontrolle gerät und sich steigert, bis der Lehrer komplett die Kontrolle verliert und vor dem verzweifelten Jungen auf den Tisch haut und ihn anbrüllt „Shut up, You freak!“. Eine weitere Ebene könnte sein, dass der Lehrer, dessen Handicap, unter dem er als Schüler gelitten hat – das Stottern, weswegen er gehänselt wurde – von Cole der gesamten Klasse verraten wurde. Cole, der aufgrund einer besonderen Begabung oder Sensibilität Geister sehen kann, gilt selbst als Außenseiter. Der Lehrer beginnt durch die Offebarung durch Cole wieder zu stottern. Die Situation ist also für das Selbstwertgefühl des Lehrers ebenso bedrohlich, zumal er Coles Geschrei nicht stoppen kann, so dass vielleicht auch seine Sicht auf Cole als die eines Bedrohten inszeniert wurde. Damit würde auch sein unprofessionelles Verhalten korrespondieren, seinen Schüler so anzubrüllen.
In dem Ausschnitt aus Don’t Look Now wurde die Figur untersichtig mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen. Dies ist hier besonders gut durch die scheinbar schiefstehende Laterne auf der linken Seite zu sehen. Wenn die Figur sich nach links bewegt schwenkt die Kamera mit und die Laterne ist anschließend in der rechten Bildhälfte ebenfalls schiefstehend zu sehen.9
Teleobjektiv: Der männliche Protagonist verkleidet sich in Tootsie als Frau, um seine Chancen auf einen Job zu erhöhen. Sein weibliches Alter Ego wird den Zuschauer*innen als erstes in einer Totalen in den Menschenmengen auf den Straßen Newe Yorks gezeigt. Die Figur bewegt sich auf die Kamera zu, scheint dabei aber nur wenig Strecke zurückzulegen, d.h. sie nähert sich visuell nur sehr langsam der Kamera. Dieser Effekt kommt durch ein Teleobjektiv zustande, das den Raum visuell staucht und außerdem einen flachen Schärfenbereich erzeugt und damit die Figur aus der Menschenmenge heraushebt.10
Teleobjektiv: Vergleichbare Bildkompositionen zeigt der Ausschnitt aus Collateral. Auch hier gehen zwei Figuren in verschiedenen Einstellungen in Richtung der Kamera. Auch sie heben sich durch den flachen Schärfenbereich von den sie umgebenden Figuren ab und die Einstellungsgröße verändert sich kaum.
Auch in der anschließenden Szene mit vielen Groß- und Detailaufnahmen von Figuren und Objekten werden Aufnahmen mit Teleobjektiven verwendet, was an dem flachen Schärfenbereich erkennbar ist. Objekte im Vordergrund sind unscharf (etwa in Einstellung 00:10 mit dem Lenkrad), im Mittelgrund scharf und im Hintergrund wieder unscharf. In einigen Einstellungen wird bei den Kamerabewegungen deutlich die Schärfe verlagert (etwa 00:28-00:30, 00:33-43).
Eine Ausnahme bildet die Einstellung gleich zu Beginn (ca. 00:01-00:06), in der die Kamera von schräg hinten der Figur folgt. Die stark angeschnittene Figur im rechten Bildvordergrund ist scharf und der Hintergrund zwar unscharf, aber um so einen weite Raum im Hintergrund aufnehmen zu können und gleichzeitig ein Objekt scharf im Vordergrund zu haben, muss der Aufnahmewinkel entsprechend groß sein, was ein Teleobjektiv je eben nicht bietet. Diese Einstellung ist deshalb vermutlich mit einem Weitwinkelobjektiv gefilmt.
Normalobjektiv: Wie bereits erwähnt kommt die Normalobjektivik unserem natürlichen Sehen am nächsten. Die Linien sind nicht verzerrt wie bei Weitwinkelobjektiven oder der Raum gestaucht und der Schärfenbereich flach wie bei den Teleobjektiven. Die Figuren im Vorder- bis Mittelgrund sind scharf und der Hintergrund zwar unscharf aber immer noch gut identifizierbar. 11
Split-Focus Diopter: Split-Focus Diopter sind im Grunde Linsen mit zwei Brennweiten, wovon die eine Hälfte den Schärfenbereich auf den Bildvordergrund legt und die andere auf den Bildhintergrund, um so Tiefenschärfe zu suggerieren. Im Unterschied zu tiefenscharfen Bildern sind die Übergänge bei Aufnahmen mit solchen Linsen aber nicht fließend, sondern das Bild ist in zwei Schärfenbereiche unterteilt. Zwischen diesen beiden Bereichen entsteht eine Art Naht, die bei genauem Hinsehen als Unschärfe erkennbar ist. Split-Focus Diopter kamen verstärkt in den 1970er Jahren zum Einsatz.
1.4 Ästhetiken der Kameraführung
Auch hierbei handelt es sich um Begriffe aus der Filmproduktion.
1.4.1 Die verschiedenen Kamerabewegungen
1.4.1.1 Schwenken, neigen, rollen
Schwenken, neigen, rollen: Kamera schwenkt zur Seite, neigt sich nach oben und unten, oder rollt um ihre Längsachse, ohne ihren Standort zu verändern. Diese drei Grundbewegungsformen können in einer Szene natürlich beliebig kombiniert werde. Die nebenstehende Abbildung von James Monaco12 illustriert die verschiedenen Kamerabewegungen. Beachten sollte man unbedingt die verschiedenen Wirkungen die die unterschiedlichen Arten der Bewegung auf die ZuschauerInnen haben: Der Schwenk ist die häufigste Form der Grundbewegungen, zusammen mit dem Neigen kann auf diese Weise z.B. ein sich bewegendes Objekt verfolgt werde. Auf die ZuschauerInnen wirken diese beiden Arten der Bewegung meist natürlich, da auch wir unsere Blickrichtung durch schwenken und neigen des Kopfes verändern können, während uns das Rollen eher schwer fallen dürfte. Aus diesem Grund sorgen Sequenzen, in denen die Kamera rollt oft zunächst für Irritation und evozieren eine erhöhte Aufmerksamkeit bei den ZuschauerInnen.
Dieser Kameraschwenk in Blow Out dreht sich mehrmals um 180°. Der Schwenk ist auch ungewöhnlich, weil er nicht einem Objekt folgt (in der Regel einer Figur) sondern den Raum zeigt und dabei die Figur geradezu ignoriert, indem sie immer wieder an ihr vorbeischwenkt. Durch diese Abweichung von dem üblichen Gebrauch von Schwenks rückt die Kameraführung in den Vordergrund der Wahrnehmung. Sie entwickelt eine Art Eigenleben und ordnet sich nicht mehr der Handlung unter. Der Film verweist hier auf seine eigene Künstlichkeit.
Kamerarollen: In dieser Szene aus Unbreakable (USA 2000, Regie: M. Night Shyamlan) zeigt die Kamera nahezu senkrecht auf ein Comic, das ein Junge auf dem Schoß liegen hat. Das Comic befindet sich im Verhältnis zu dem Jungen zunächst überkopf liegend. Sorgsam nimmt er es an der oberen und unteren Kante und dreht das Heft langsam. Die Kamera vollzieht diese Bewegung nach. Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass auch im Jahr 2000 so eine Kameraaktion einigen technischen Aufwand bedeutete. Die visuelle Inszenierung fällt auch auf, da die Kameraposition in Kombination mit der Bewegung ungewöhnlich ist. Warum der Aufwand? Bei der Szene handelt es sich um eine Rückblende. Ein Mann, der mittlerweile durch seine Leidenschaft für Comics als Sammler und Händler zu Wohlstand gekommen ist, erinnnert sich an dieses Comic, das ihm seine Mutter geschenkt hat und das eine Art Initiation in die Welt der Superhelden-Comics für ihn bedeutete. Die Rückblende wird durch das originale Titelbild des Comics eingeleitet, das er in der Gegenwart einem Vater mit seinem Sohn verkaufen möchte. Welche umfassende Bedeutung diese aktive Bewegung für diesen Jungen hat, der aufgrund einer Erkrankung gerade in Bezug auf Bewegungen extrem eingeschränkt ist, wird durch die Kamerabewegung unterstützt. Die Kamerabewegung suggeriert nun, dass er nicht nur ein Heft gerade rückt, sondern dass er sich, metaphorisch formuliert, einer ganze Welt zudreht, sie sich zu eigen macht.
Kamerarollen: Dans ma peau (F 2002, Regie: Marina de Van) endet damit, dass die sich selbst verstümmelnde Protagonistin sich in ein Hotelzimmer zurückzieht, um sich ganz ihrer autodestruktiven Leidenschaft hinzugeben. In der Szene wird eine Einstellung wiederholt, indem sie mit Überblendungen aneinandermontiert wurde. Die Kamera zoomt zurück und dreht sich (rollt) dabei.
1.4.1.2 Kamerafahrt
Kamerafahrt: Bei der Fahrt wird die Kamera durch den Raum bewegt. Dabei kann sie auf einem Wagen (Dolly) gerollt werden, vom Kameramann (in Form von Handkamera oder Steadycam) oder Schauspieler selbst (als Snorricam) getragen werden oder aber an einem Kamerakran besfestigt sein. Selbstverständlich sind auch alle möglichen Gefährte (Schiff, Fahrrad, Auto, etc.) denkbar. Eine Sonderform der Kamerafahrt ist der Tracking Shot.
Tracking Shot: Ein Tracking Shot ist eine Kamerafahrt, die ein Objekt oder eine Figur verfolgt (vom englischen to track: verfolgen). Die nebenstehende Sequenz aus Jean-Luc Godards Week End (F/I 1967, Regie: Jean-Luc Godard) zeigt einen relativ langen Tracking Shot, in dem die Kamera ein Auto durch einen Stau hindurch begleitet. Intressant ist dabei vor allem, wie dies geschieht, denn die Kamera „klebt“ nicht permanent an dem Auto, indem sie es dauerhaft im Zentrum des Bildes hält. Vielmehr agiert sie ähnlich einem anderen Wagen der ebenfalls im Stau steckt, teilweise eilt sie vorraus, teilweise lässt sie sich abhängen. Die Sequenz bekommt dadurch eine ganz eigene Dynamik und erlaubt es den ZuseherInnen die bizarre Szenerie, wie im vorbeifahren zu betrachten.
Der nebenstehende Ausschnitt zeigt den Anfang von Le mépris (Die Verachtung; F/I 1963, Regie: Jean-Luc Godard), zu sehen ist die Produktion/Aufnahme eines Tracking Shots mit Hilfe eines Dollys auf Schienen, d.h. die Kamera verfolgt seitlich ein sich bewegendes Objekt, in Form einer Kamerafahrt. An deren Ende die Kamera mittels Schwenken und Neigen die ZuschauerInnen „ins Visier nimmt“.
1.4.2 Techniken der Kameraführung
Die Ästhetik der Kameraarbeit und welche narrative Funktion sie erfüllt wird unter anderem dadurch geprägt, wie die Kamera befestigt und gehalten wird. Die Unruhe der Handkamera etwa kann so eingesetzt werden, dass in einer zuvor ruhigen Szene, die zunächst vom Stativ gefilmt wurde, plötzlich eine unheilvolle Stimmung entsteht. Das wackelige Bild, dass in gewissem Ausmaß immer entsteht, wenn von der Schulter gedreht wird, ohne dass die unregelmäßigen Bewegungen des Körpers irgendwie ausgeglichen werden, kann so einen Stimmungswechsel wirkungsvoll unterstützen. Aufnahmen mit Handkamera sind aber in anderen narrativen Kontexten als dokumentarisch codiert und bewirken den Eindruck von Unmittelbarkeit im Sinne von nicht-inszeniert wie bei den Dogma-Filmen. Die Codierung der Handkamera (oft auch in Kombination mit grobkörnigem Filmmaterial) kann auf die Tradition des in den 1950er Jahren entstandene Direct Cinema zurückgeführt werden, das sich zum Ziel gesetzt hatte, nur aufzuzeichnen ohne Einfluss auf Geschehen zu nehmen.
1.4.2.1 Dolly
Ein Dolly ist ein Kamerawagen, der mit oder ohne Schienen eingesetzt werden kann. Es existieren verschiedene technische Umsetzungen mit jeweils drei oder vier Rädern, verschiedenen Möglichkeiten, die Kamera auch auf dem Dolly zu bewegen, Eignung ohne Schienen auch auf nicht ganz ebenem Grund Fahrten zu realisieren, etc.
1.4.2.2 Kamerakran
Kranfahrt: Eine der oft genannten Plansequenzen, die mit einem Kamerakran durchgeführt wurden, gehört die erste Einstellung in Touch of Evil (USA 1958, Regie: Orson Welles) von Orson Welles.
1.4.2.3 Handkamera
Handkamera: Handkamera bedeutet im Grunde nur, dass die Kamera vom Kameramann ohne zusätzliche Befestigung geführt wird, d.h. in der Regel liegt sie auf der Schulter auf. Dadurch entsteht, ganz gleich wie ruhig die Kamera geführt wird, immer ein gewisser Verwacklungseffekt, der mehr oder weniger Unruhe ins Bild bringt. Markus Kuhn spricht auch von einem Handkameraeffekt13.
Die Handkamera ist für die sogenannten Dogma-Filme ein charakteristisches Stilmittel. Eine Reihe von skandinavischen Regisseuren, federführend waren Lars von Trier und Thomas Vinterberg, schrieben das Manifest Dogma 95 in Anlehnung an das Oberhausener Manifest aus den 1960er Jahren. In dem Manifest sind 10 Regeln für das Filmemachen festgelegt. Eine davon ist die ausschließliche Verwendung von Handkamera. In der nebenstehenden Szene aus Das Fest (Orig. Festen; D/S 1998, Regie: Thomas Vinterberg) schwenkt die Kamera immer wieder zwischen dem Mann und der Frau hin und her. Dabei sind die Bewegung oft so schnell, dass eine extreme Bewegungsunschärfe erzeugt wird. Wenn die Schwenks so schnell ausgeführt werden, dass die Konturen der Objekte verwischen, spricht man auch von Reißschwenks.
1.4.2.4 Steadycam
Steadycam: Bei der Steadycam handelt es sich um eine Apparatur, an der die Kamera befestigt und die am Körper des Kameramanns festgeschnallt wird. Aufgrund der ausgeklügelten Verteilung von Gewichten und der Konstruktion des Metallgestänges ermöglicht die Steadycam eine ruhige und extrem flexible Kameraführung, ohne einen Handkamera-Effekt zu erzeugen.
Die Steadycam wurde in 1970er Jahren entwickelt und auch schon vereinzelt in Filmen eingesetzt. Die erste Stedaycam-Aufnahme in einem Kinofilm ist die Eintellung aus Bound for Glory (USA 1976, Regie: Hal Ashby) – siehe rechts. Das berühmteste Beispiel ist jedoch wahrscheinlich immer noch The Shining (UK/USA 1980, Regie: Stanley Kubrick), in dem die Steadycam extensiv genutzt wurde – siehe ebenfalls rechts.
Zu den bekanntesten Szenen im Zusammenhang mit der Verwendung der Steadycam in The Shining gehören die Fahrt Dannys mit seinem Dreirad durch die Gänge des Hotels und seine Flucht vor seinem Vater durch das Heckenlabyrinth. Letztere wurde hier als Beispiel ausgewählt, da in ihr durch die Enge der Labyrinthgänge, die Unebenheit des Terrains und die Dynamik der Verfolgung die spezifischen Eigenschaften bzw. Wirkung der Steadycam besonders deutlich werde. Im Gegensatz zu einer Handkamera sind die Aufnahmen ruhig, die Kamera scheint zu gleiten, während sie Danny verfolgt. Selbst wenn der Junge Haken schlägt, bleibt sie ihm immer sprichwörtlich dicht auf den Fersen. Durch den geringen Abstand zum Boden, am Ende des Beispiels und die weitwinkeligen Aufnahmen wirkt das Labyrinth noch beklemmender und die Wände höher auch wird dadurch die Geschwindigkeit und Dramatik zusätzlich gesteigert. Das Motiv des Labyrinths ist zentral für den Film und die Szene in dem Heckenlabyrinth vor dem Hotel ist im Grunde nur eine Wiederholung und das Finale der Szenen in den labyrinthischen Gängen innerhalb des Overlook Hotels (siehe dazu auch hier).
Ein weiteres Beispiel, in dem die Möglichkeiten der Steadycam sehr gut sichtbar sind, ist die nebenstehens Szene aus Eyes Wide Shut (UK/USA 1999, Regie: Stanley Kubrick), in der die Kamera ein tanzendes Paar begleitet und dessen tänzerische Bewegungen geradezu mitzuvollziehen scheint. Eine derart geschmeidige Kameraführung wäre anders als mit der Steadycam nicht möglich.
1.4.2.5 Snorricam
Snorricam: Eine weitere spezifische Ästhetik der Kamerabewegung kann mit der sogenannten Snorricam erzeugt werden. Die Kamera wird mit einer Apparatur am Körper des Schauspielers befestigt. Dadurch bewegt sie sich mit dem Körper gleichmäßig mit. Die Besonderheit besteht darin, dass der Abstand zwischen Kamera und Objekt immer exakt eingehalten wird und jede Bewegung des Körpers von der Kamera quasi nachvollzogen wird, wie es das nebenstehende Beispiel aus Π (USA 1998, Regie: Darren Aronofsky) zeigt.
Snorricam-Apparatur14
In Ghostland (F/Can. 2018, Regie: Pascal Laugier) wird in zwei Einstellungen des gesamten Films ebenfalls eine Körperkamera verwendet.
1.4.3 Suggerierte Kamerabewegungen
1.4.3.1 Virtuelle Kamera
Virtuelle Kamera: In Fight Club (USA/D 1999, Regie: David Fincher) werden viele rasante (virtuelle) Kamerafahrten verwendet. Bei der im Ausschnitt gezeigten Fahrt ist so ziemlich jede Möglichkeit dabei: Fahrt nach unten, neigen und wieder nach oben, schwenken, Fahrt vorwärts, Reißschwenk, Fahrt rückwärts und zur Seite.
1.4.3.2 Bullet Time Shot
Eine Variante der simulierten Fahrt ist der Bullet time shot. Dabei kommen aber sehr viele Kameras zum Einsatz, die alle verschiedene Bilder eines Objekts oder einer Szene aufnehmen, aus denen dann ein Bewegtbild zusammengesetzt wird. Populär wurde dieser Effekt durch den Film The Matrix (USA 1999, Regie: Lilly Wachowsky/Lana Wachowski).
1.4.3.3 Simulierte Fahrt mit Zoom-Objektiv
Suggerierte Fahrt mit einem Zoom-Objektiv (Gummilinse): Mit Zoom-Objektiven können während des Filmens die Brennweiten verändert werden. Das bedeutet, dass man von einer weitwinkligen Aufnahme, die einen großen Ausschnitt der präfilmischen Welt zeigt fließend zu einer Telebrennweite übergehen kann. Der visuelle Abstand zu den Objekten verändert sich dadurch und man könnte so eine Aufnahme auch als simulierte Fahrt bezeichnen, da sich die Kamera physisch dabei aber nicht bewegt, gehört der Zoom streng genommen jedoch nicht zu den Kamerabewegungen. Im Grunde ändert sich nur der visuelle Abstand der Objekte zueinander. Bei Teleobjektive werden die Objekte visuell näher herangeholt. Dadurch verringert sich die Tiefenschärfe und die Objekte scheinen sich dichter hintereinander zu befinden. Im Weitwinkelbereich wird die Tiefenschärfer größer (siehe nebenstehende Grafik aus James Monacos Film verstehen15). Dadurch scheinen sich die Objekte weiter voneinander weg zu befinden (siehe die beiden Filmausschnitte aus Barry Lyndon (UK/USA 1975, Regie: Stanley Kubrick), vor allem den in welchen Barry in dem Boot sitzt und zurückgezoomt wird ist am Abstand von Boot und Hintergrund gut erkennbar, dass es sich um einen Zoom handelt). Die simulierte Bewegung mit einem Zoom-Objektiv wirkt, vor allem wenn sie schnell ausgeführt wird, oft sehr mechanisch.
1.4.4 Exkurs: Kamerafahrten vs. Zoom
Kamerafahrten vs. Zoom Auch wenn mit beiden Techniken ein ähnliches Endergebnis, das sich Annähern an oder Entfernen von einem Objekt, erzielt werden kann, sollte immer sehr genau unterschieden werden, ob es sich um eine echte Fahrt oder einen Zoom handelt.
Zoom und Kamerafahrt unterscheiden sich nicht nur signifikant durch ihre jeweilige Wirkung auf die räumlichen Verhältnisse des Bildes selbst, sondern auch wie die ZuschauerInnen das Gesehene wahrnehmen und interpretieren. So wirkt die Fahrt auf die RezipentInnen meist natürlicher, da die Kamera unsere eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten imitiert. Das menschliche Auge ist nicht in der Lage zu zoomen, deshalb ist uns eine Annäherung durch Bewegung vertrauter als durch einen Zoom. Zudem suggeriert eine Annäherung durch eine echte Fahrt den ZuschauerInnen ein stärkeres Gefühl mit den gefilmten Objekt(en) den selben Raum zu teilen. Weil die Perspektive der ZuschauerInnen beim Zoom dagegen konstant bleibt, vermittelt er eher ein Gefühl der Distanz und ein Fokussieren, also eine Konzentration des Blicks auf einen Bildausschnitt bzw. bei einem Zoom „rückwärts“ (aus dem Tele- in den Weitwinkelbereich) den Blick wieder zu öffnen. Da der Zoom ein Objekt stärker ausstellt bzw. hervorhebt als eine Fahrt und er auch rascher durchgeführt werden kann, ist er gut geeignet um Akzente zu setzten.
Erste Aufnahmen mit Zooms gab es bereits in den 1920er Jahren, etwa bei dem us-amerikanischen Film It (USA 1927; Regie: Clarence G. Badger) aus dem Jahr 1927 (siehe rechts und vgl. dazu auch Barry Salt Film Style & Technology16). Aus Kostengründen wurde vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, häufig ein Zoom statt einer echten Fahrt verwendet. Wodurch der Zoom in Verruf geriet, weil er (in seiner oft schlampig ausgeführten Form) als Charakteristikum von Low-Budget-Produktionen galt. Insbesondere im Genre des Martial Arts Films wurde der (schlecht ausgeführte) Zoom zu einem prägenden Stilmittel, zumal er so inflationär eingesetzt wurde, dass selbst tatsächliche Kamerafahrten, für die die Zooms ersatzweise eingesetzt wurden, die visuelle Auflösung oft nicht besser gemacht hätten, wie die Beispielszene aus Drunken Master (HK 1978, Regie: Woo-Ping Yuen) zeigt.
1.4.5 Kombination Fahrt-Zoom (Vertigo-Effekt oder Dolly-Zoom)
Kombination Fahrt-Zoom (Vertigo-Effekt oder Dolly-Zoom)
Durch genaue Abstimmung von Fahrt und Zoom ändert sich der Abstand der Objekte zueinander, während der Bildausschnitt gleich bleibt. Zum Beispiel fährt die Kamera nach vorne und zoomt zurück also in den Weitwinkelbereich wie in Jaws (USA 1975, Regie: Steven Spielberg) (siehe Beispielvideo rechts). Der Bildausschnitt verändert sich nur unwesentlich, während sich geradezu sturzartig der Raum nach hinten zu strecken scheint.
In Spielbergs E.T. the Extra-Terrestrial (USA 1982, Regie: Steven Spielberg) ist der Vertigo-Effekt viel langsamer und dadurch subtiler eingesetzt worden. Die Kamera fährt ebenfalls nach vorne und zoomt zurück. Der Blick erfolgt von einer Anhöhung auf eine Kleinstadt. Es entsteht dadurch zusätzlich der Eindruck, dass sich die Kamera nach oben bewegt, da der Abhang durch den Zoom in den Weitwinkelbereich sukzessive ins Bild gerückt wird. Außerdem wird der Vertigo-Effekt gegen Ende der Einstellung wieder umgekehrt, d.h. die Kamera fährt zurück und zoomt nach vorne.
1.5 Kameraperspektiven
Normalsicht: Kamera befindet sich auf Augenhöhe der Figuren.
Untersicht (Extreme Untersicht auch Froschperspektive): Das Gezeigte wird von unten her aufgenommen.
Aufsicht Vogelperspektive: Kamera schaut von einem erhöhten Standpunkt auf das Geschehen.
1.5.1 Auf-/Untersicht
Aufsicht: Von einer Aufsicht spricht man wenn sich die Kamera über der Augenhöhe der, als Bezugspunkt gesetzten, Figur befindet, die ZuseherInnen also durch den Blick der Kamera auf eine Figur(en) herab sehen. Dieser von der Normalsicht verschobene Blickwinkel kann, je nach Kontext in dem er genutzt wird, auf die ZuseherInnen verschiedene Wirkungen haben. So kann durch eine Aufsicht z.B. ein Machtgefälle zwischen Beobachter (z.B. den RezipientInnen) und dem beobachteten Subjekt (z.B. dem Protagonisten) erzeugt werde. Aufsichten werden deshalb oft verwendet, um Figuren kleiner und schwächer wirken zu lassen. Hitchcock nutzt sie bspw. in einigen seiner Filme in ähnlicher Weise. Bei den untenstehenden Szenen aus den Hitchcock Filmen To Catch A Thief (USA 1955, Regie: Alfred Hitchcock), Rear Window (USA 1954, Regie: Alfred Hitchcock) und The Man Who Knew Too Much (USA 1956, Regie: Alfred Hitchcock) sind die Einstellungen alle entweder normal- oder leicht untersichtig gefillmt und nur an jeweils einer Stelle wird pointiert eine starke Aufsicht verwendet. Es entsteht durch den plötzlichen Einsatz dieses Kamerawinkels eine visuelle Unruhe, die die Figuren als bedroht erscheinen lässt. Diese Einstellungen funktionieren auf unterschwelliger Ebene als unheilvolles foreshadowing.
Wie oben erwähnt ist die Wirkung der Aufsicht immer sehr stark abhängig vom Kontext, dieser muss immer mit untersucht werden, wenn man eine Aufsicht in der Analyse betrachtet. In Psycho (USA 1960, Regie: Alfred Hitchcock) verwendet Hitchcock auch immer wieder Aufsichten, jedoch nutzt er sie dort nicht um eine Bedrohung für eine Figur zu suggerieren sondern um die ZuschauerInnen zu täuschen und das Geheimnis um Normans Mutter zu erhalten. In zwei Einstellungen wird das Treppenhaus in Normans Haus aus einer Vogelperspektive (also einer extremen Aufsicht) gezeigt. Bei der ersten scheint die Mutter aus ihrem Zimmer zu kommen, um den Privatdetektiv Arbogast zu erstechen. Bei der zweiten nebenstehenden Sequenz handelt es sich um eine lange Plansequenz. Die Kamera folgt zunächst dem Weg von Norman Bates, der die Treppe hinaufgeht, dreht sich langsam nach oben, bis sie in derselben Vogelperspektive anhält, in der der Angriff auf Arbogst gezeigt wurde. Norman kommt mit seiner Mutter auf dem Arm aus dem besagten Zimmer und trägt sie die Treppe hinunter. Der scheinbare Widerspruch besteht darin, dass die ZuschauerInnen eigentlich einen guten Überblick über die Handlung haben, die wesentlichen Informationen aber aufgrund des Blickwinkels nicht oder zumindest nicht eindeutig erhalten.
Untersicht: Psycho (USA 1960, Regie: Alfred Hitchcock) arbeitet in dieser Dialogszene mit verschiedenen Abstufungen von Untersicht. Die meiste Zeit über werden die beiden Figuren Marion und Norman leicht untersichtig gefilmt. Dann springt die Kamera an einer Stelle des Dialogs in eine stärkere Untersicht, wenn Norman Bates im Bild ist. Im Hintergrund kommen dadurch die ausgestopften Vögel an der Wand besser zur Geltung, die zusätzlich zu ihrer erhöhten Position noch Schatten an die Wand werfen. Eine Eule hat noch die Flügel weit ausgebreitet und scheint unheilvoll über Norman zu sitzen.
Manche Regisseure nutzen leicht untersichtige Aufnahmen als durchgängige Inszenierungsweise. Yasujirô Ozus Filme sind stilistisch unter anderem durch nahezu durchgängige Untersicht geprägt.
In der Szene aus C’era una volta il West (I/USA 1968, Regie: Sergio Leone) werden Unter– und Aufsicht zum Teil anders als üblich eingesetzt. Der Gequälte blickt hier auf seine Peiniger herab und die ZuschauerInnen vollziehen seine Perspektive durch Aufsichten nach. Häufig werden Untersichten verwendet, um die Überlegenheit einer Figur zu unterstreichen. Der sadistische Frank (Henry Fonda) wird durch die zum Teil extremen Aufsichten aber eher als klein und niederträchtig gezeigt. Der auf den Schultern des Jungen stehende Mann hingegen wird mit starker Untersicht gezeigt, was ihm zwar in seiner misslichen Lage nicht unbedingt Souveränität verleiht, ihm aber gepaart mit seiner kämpferischen Haltung (er scheint die Verbrecher zu beschimpfen) eine gewisse Würde lässt.
1.5.2 Verkantete Kamera
Verkantete Kamera: Die Kamera wird gekippt, wodurch die horizontalen und vertikalen Linien, die im Film normalerweise unserer alltäglichen Raumwahrnehmung entsprechen, schräg verlaufen.
In The Fisher King (USA 1991, Regie: Terry Gilliam) arbeitet Terry Gilliam in einer Szene in vielen Einstellungen mit verkanteter Kamera, die die surreale Darstellung der Stadt New York unterstützt und für die ZuschauerInnen gleichzeitig die desolate psychische Verfassung der Protagonisten in ihr spürbar werden lässt.
Im nebenstehenden Ausschnitt aus Slumdog Millionaire (UK/F/USA, Regie: Danny Boyle) kann man sehr gut erkennen wie die verkantete Kamera verwendet wird, um visuell ein Gefühl bzw. eine Atmosphäre von Unsicherheit und Bedrohung zu suggerieren.
1.6 Zeitlupe und Zeitraffer
Mit der Normierung der Aufnahme- und Projektionsgeschwindigkeit, die durch die Entwicklung des Filmtons notwendig wurde, wurde der Film endgültig zu einem zeitbasierten Medium17. Die gezielte Manipulation der Bildfrequenzen bei der Produktion, um spezielle Effekte zu erzeugen, wurde damit viel präziser möglich.
Die Schießerei zu Beginn des Westerns The Wild Bunch (USA 1969, Regie: Sam Peckinpah) ist für ihre Inszenierung berühmt, für die insbesondere der Einsatz von Zeitlupe in Verbindung mit beschleunigter Montage und einem naturalistischen Sounddesign prägend ist. Michel Chion schreibt dazu: „Mit Aufkommen des Tonfilms verschwand diese Elastizität. Die Rückkehr der zeitlichen Elastizität in den Realismus geschah durch Action- oder Kampf-Szenen in Filmen von Sam Peckinpah. Mit anderen Worten: Zeitliche Elastizität wurde nicht in eine Bild-Ton-Beziehung eingeführt, welche ungefährer Natur oder asynchron ist, sondern sie erscheint im Gegenteil in Szenen, welche Synchronisationspunkte haben, in denen Schläge, Kollisionen und Explosionen als starke Referenzpunkte dienen können“18.
Der Verfremdung der Bewegung durch die Zeitlupe hat Peckinpah also nicht den Ton angepasst, indem er ihn verzerrt hat, sondern im Grunde durch den naturalistischen Ton die Zeitlupe, wie Chion schreibt, in den Dienst einer naturalistischen Darstellung der Kampfhandlung gestellt.
In 300 (USA 2006, Regie: Zack Snyder) werden in einer Kampfszene Zeitlupen-Aufnahmen verwendet, die aber mit extrem schnellen Kamerafahrten kombiniert werden. Auf der visuellen Ebene entsteht damit der Widerspruch zwischen Zeitlupe auf der Ebene vor der Kamera und einer Art Zeitraffereffekt auf der Ebene der Kamerabewegung, wobei Zeitraffer hier technisch gesehen nicht der zutreffende Ausdruck ist, da es sich beim Zeitraffer um eine verlangsamte Aufnahme von Bildern pro Sekunde handelt, die dann beim Abspielen des Filmmaterials in Normalgeschwindigkeit eine beschleunigte Bewegung zeigt.
Zeitraffer: Folgende Sequenz aus A Clockwork Orange (UK 1971, Regie: Stanley Kubrick) zeigt den Protagonisten Alex und zwei Frauen, die er in einem Zeitschriftenladen anspricht und mit nach Hause nimmt. Der Zeitraffer in Kombination mit der Musik macht den Sexualakt zu einem cartoonhaften Herumgezappel ohne jede Erotik.
1.7 Weitere Gestaltungsmittel der Mise-en-image
1.7.1 45-degree-shutter
Ein spezieller visueller Effekt kann bei der Aufnahme mit dem sogenannten „shutter“ erzeugt werden, mit dem die Belichtungszeit des Filmstreifens manipuliert werden kann. Zeitgleich wenn der Filmstreifen in der Kamera weitergezogen wird, dreht sich die Flügelblende so mit, dass während dieses Bruchteils einer Sekunde kein Licht auf den Filmstreifen fällt. Die Flügelblende ist standardmäßig auf 180° eingestellt, was einem Halbkreis entspricht (siehe Animation „Rotary Disc Shutter“). Wenn nun der Bereich, durch den Licht einfällt!, verkleinert wird, etwa auf 45° (siehe Grafik „Shutter degrees“), fällt kürzer Licht auf den Filmstreifen. Das Bild wird schärfer, weil die Bewegungen durch die kürzere Belichtungszeit weniger verwischen, aber das Bild wird durch den verkürzten Lichteinfall auch dunkler. Außerdem wird auch die Bewegungsunschärfe verringert, was zu diesem leichten Ruckeleffekt führt (siehe Ausschnitt aus Saving Private Ryan).
Eine klar definierte Bezeichnung für diesen Effekt konnte bisher nicht eruiert werden. Unter 45 degree shutter lassen sich Erläuterungen dazu im Zusammenhang mit Saving Private Ryan (USA 1998, Regie: Steven Spielberg) auf einem Blog finden, von dem auch die Grafiken hier zitiert werden21. Bei Digitalkameras gibt es keinen shutter und der Effekt kann durch die Manipulation der Belichtungszeit erzeugt werden. (ACHTUNG! Die hier zitierte Szene aus dem Film ist sehr brutal!)
Filmmaterial: schwarz-weiß, Farbe, grobkörnig oder hochauflösend, Verwendung verschiedener Materialien in einem Film (American History X, Traffic von Soderbergh); verschiedene Objektive (Tele- und Weitwinkelobjektive –> Fear and Loathing in Las Vegas);
Quellen:
- Prümm, Karl (2006): Von der Mise en scène zur Mise en image. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Filmtheorie und Filmanalyse, in: Koebner, Thomas und Meder, Thomas (Hrsg.): Bildtheorie und Film, München: edition text + kritik, S. 15-35.
- ebd. S. 17
- Mikos, Lothar (2015): Film- und Fernsehanalyse, Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft mbH, S. 184.
- Hickethier, Knut (1996): Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: Metzler, S. 58f.
- Kamp, Werner/Rüsel, Manfred 1998: Vom Umgang mit Film, Berlin: Volk und Wissen Verlag, S. 14f.
- Balàzs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 49.
- Plantinga, Carl: „Die Szene der Empathie und das menschliche Gesicht im Film“; in: montage a/v, 3/2/2004, S. 6-27.
- http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8359, zuletzt abgerufen am 03.06.2020.
- vgl. Bordwell, David / Thompson, Kristin: Film Art: An Introduction. McGraw-Hill, New York 2008. (8. Auflage), S.168
- Bordwell, David / Thompson, Kristin: Film Art: An Introduction. McGraw-Hill, New York 2008. (8. Auflage), S.171
- vgl. Bordwell, David / Thompson, Kristin: Film Art: An Introduction. McGraw-Hill, New York 2008. (8. Auflage), S.170
- Monaco, James (2001): Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag. (5. Aufl.). S. 94
- https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/127/139, letzter Aufruf 24.03.2021
- www.snorricam.com
- Monaco, James (2001): Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag. (5. Aufl.). S. 77
- Salt, Barry (1992): Film Style & Technology: History & Analysis. London: Starword. (2. Aufl.). S. 185f
- vgl. Chion, Michel (2012): Audio-Vison. Ton und Bild im Kino. Berlin: Schiele & Schön, S. 25.
- ebd. S. 57f
- https://cinemashock.org/2012/07/30/45-degree-shutter-in-saving-private-ryan/
- https://cinemashock.org/2012/07/30/45-degree-shutter-in-saving-private-ryan/
- siehe auch: https://lakebard.wordpress.com/2017/11/09/shutter-angle-shutter-speed-and-frame-rate-gladiator-saving-private-ryan/