5. Sound_Entwurf

5. Allgemeines zum Sound / Filmton

„Erst mit Entwicklung der Tonspur wurde der Film zu einer ,Zeitkunst‘!“1
Michel Chion

Die Bedeutung der Tonspur für den Film wurde zwar nie geleugnet, jedoch wurde sie lange Zeit in der Filmwissenschaft eher stiefmütterlich behandelt. Ob dies an der kulturgeschichtlich entwickelten Überbewertung des Visuellen liegt wie Rudolf Kersting behauptet, wenn er schreibt „Es [das Visuelle, Anm. R.Kh.] besaß schon lange vor der Erfindung des Kinos gegenüber anderen Sinnesmodi eine deutliche Vormachtstellung, Sehen ist das Produkt einer gigantischen geschichtlichen ›Ausweitung‹ […]“2 oder weil der Ton beim Film nach Chion  immer auf das Bild bezogen ist und er folglich keine Eigenständigkeit besitzt (vgl. Chion 2012 [1991], S. ?), muss hier offen bleiben. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung des Tons könnte die Schwierigkeit sein, die Wechselwirkung von Bild und Ton analytisch zu fassen.
Die Einschätzung der Bedeutung des Sehens fällt sehr unterschiedlich aus. Die Musikwissenschaftlerin Claudia Bullerjahn schreibt etwa: „Das Sehen ist der als komplexeste, am weitesten entwickelte und wichtigste aller Sinne des Menschen anzusehen.“ 3. Dem kann die Aussage einer Taubstummen entgegen gehalten werden: „Helen Keller, die sowohl taub als auch blind war, hielt Taubheit für schlimmer als Blindheit, da Blindheit sie von Dingen isolierte, Taubheit jedoch von den Menschen.“ 4 oder die Aussage einer anderen Frau, die vom Verlust des Sehsinns betroffen ist: „Erst als ich [mit 23] das Sehvermögen verlor, habe ich bemerkt, daß die Sicht nach außen projiziert. Es ist das Ohr, das uns in unsere innere Welt führt.“ 5 Obwohl diese Aussagen direkt keinen wissenschaftlichen Wert haben, sind sie doch ein Hinweis darauf, dass das tatsächliche Verhältnis von Seh- und Hörsinn nicht ganz eindeutig ist, und der Hörsinn in unserem Alltagsverständnis  vielleicht tendenziell unterschätzt wird.

5.1 Physikalischen und physiologische Grundlagen

  • Physiologische Grundlagen:
  • Physikalische Grundlagen?
  • Hörszenenanalyse:

5.1 Orte des Tons

Unterschieden wird beim Sound / Filmton in der Regel zwischen Geräuschen, Dialogen, Musik und AtmoMichel Chion schreibt, dass der Ton beim Film vertikal organisiert ist, das heißt er bezieht sich immer auf das Bild. Deshalb verwendet er den Begriff der Tonspur nur in einem rein technischen Sinne. Es handelt sich also um eine reziproke Beeinflussung von Bild Ton. Der Ton wirkt sich auf die Wahrnehmung des Bildes aus, aber auch umgekehrt, kann das Bild die Wahrnehmung des Tons beeinflussen.
Ziel der Analyse der auditiven Ebene ist folglich immer,  das Zusammenwirken von Bild und Ton herauszuarbeiten.

Diegetic und nondiegetic sound6 (diegetischer / nicht-diegetischer Ton): Als diegetic werden die Klänge bezeichnet, die ihren Ursprung in der erzählten Welt haben und als nondiegetic die, welche nicht dem erzählten Raum zugehören. Eine dramaturgische Funktion erfüllen selbstverständlich beide, womit sie auch zur Erzählung gehören.
 
Onscreen/Offscreen: Als onscreen werden Klangquellen bezeichnet, die im Bild sichtbar sind. Klangquellen, die nicht sichtbar sind, werden dementsprechend als offscreen klassifiziert.
 
Vorder-, Mittel- und Hintergrund: Der Filmton lässt sich im Prinzip wie das Bild in verschiedene Ebene unterteilen. Man stelle sich eine Situation in einem Restaurant vor, in dem sich zwei Personen unterhalten. Ihre Unterhaltung ist deutlich zu hören (Vordergrund). Im Hintergrund spielt Musik. Das Stimmengewirr der anderen Gäste könnte lauter als die Musik, aber auch deutlich leiser als die Unterhaltung sein und bildet somit den Mittelgrund.
In dem Ausschnitt aus Fight Club bildet das voice-over des Protagonisten den auditiven Vordergrund, die Musik den Mittelgrund und das Telefongespräch und die vom Protagonisten erzeugten Geräusche in seiner Wohnung den Hintergrund, wobei die Stimme des Protagonisten aus der visuellen Ebene auch manchmal deutlicher zu hören sind, aber vom Sound-Design her nie so nahe wirken, wie der Vordergrund.

5.2 Valeur ajoutée

Ein zentraler Begriff in Michel Chions Standardwerk zur Filmtonanalyse Audio-Vision – Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schön, 2012 [franz. Orig. 1991] ist der valeur ajoutée. Valeur ajoutée bedeutet Mehrwert und meint hier spezifisch, eine Information oder eine Wahrnehmung, die durch das Zusammenspiel von Bild und Ton entsteht und nie allein in Bild oder Ton enthalten ist.7

Chion nennt nebenstehende Szene aus Das Schweigen (Orig.: Tystnaden, S 1963, Regie: Ingmar Bergmann) als Beispiel für einen valeur ajoutée. Erst durch den Ton entwickelt die Gestalt des unvermittelt auftauchenden Panzers seine Schwere und Monströsität.8
Valeur ajoutée in Das Schweigen (Orig.: Tystnaden, S 1963, Regie: Ingmar Bergmann)
„Der valeur ajoutée arbeitet mit Gegenseitigkeit. Ton stellt uns ein Bild anders dar als das, was das Bild alleine uns zeigt, und das Bild lässt uns den Ton anders hören als er klingen würde, hörten wir ihn im Dunkeln.“9 In dem französischen Horrorklassiker Les yeux sans visage (deutsch.: Augen ohne Gesicht/Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff, F 1960, Regie:Georges Franju) entledigen sich der Chirurg und seine Komplizin der Leiche eines Opfers, deren Gesichtshaut sie der entstellten Tochter des Chirurgen transplantieren wollten. Zu hören, aber nicht sichtbar, ist der Aufprall der in einem Sack verpackten Leiche, die in ein Loch geworfen wird. Chion konstatiert, dass die starke Wirkung des an sich einfachen Klangs, daher rührt, dass die ZuschauerInnen wissen, dass es sich um die Leiche einer jungen Frau handelt, die hier zu einem Abfallobjekt geworden ist und dieses in dem Aufprallgeräusch schlagartig verdeutlicht wird.
Valeur ajoutée in Les yeux sans visage (deutsch.: Augen ohne Gesicht/Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff, F 1960, Regie:Georges Franju)

5.3 Synchronisationspunkte

„Ein Synchronisationspunkt oder Synch-Point ist ein wichtiger Moment in einer audiovisuellen Sequenz, in dem ein Klangereignis und ein Bildereignis synchron aufeinander- treffen; ein Punkt, an dem der Effekt der Synchrese für sich genommen akzentuiert wird, vergleichbar mit einem herausragenden Akkord in der Musik. Das Phänomen der signifikanten Synchronisationspunkte folgt generell den Gesetzen der Gestalt. Ein Synch-Point erscheint manchmal spezieller in einer Sequenz:
• Als unerwarteter doppelter Bruch im audio-visuellen Fluss (als synchroner Schnitt in Bild und Ton; dies ist charakteristisch für externe Logik, wie häufig in Alien verwendet).
• In Form von Interpunktion am Ende einer Sequenz, deren Spuren so lange unabhängig voneinander erschienen, bis sie zusammen endeten (Synch-Point der Zusammenführung).
• Rein durch seine physische Natur: Beispielsweise wenn der Synch-Point mit einer Naheinstellung zusammenkommt, was den Effekt eines visuellen Fortissimo erzeugt oder wenn der Klang selbst lauter ist als die anderen Klänge.
• Auch durch seinen affektiven oder semantischen Charakter: Ein Wort eines Dialoges, welches eine starke Bedeutung hat und auf bestimmte Weise gesprochen wird, kann der Moment für einen wichtigen Synchronisationspunkt mit dem Bild sein.
Der Synchronisationspunkt kann das Zusammentreffen von Elementen ganz unterschiedlicher Natur sein. Zum Beispiel kann ein visueller Schnitt mit einem Wort oder einer Wortgruppe verbunden werden, welcher durch einen Voice Over-Kommentar spezielle Wichtigkeit bekommt. In Godards Lettre a Freddy Buache machen diverse Verbindungen von Bildschnitten mit Satzenden die Synch-Points aus, auf denen die gesamte Architektur des Films beruht. Der Synchronisationspunkt ist tatsächlich der Moment, der Ort, wo der audiovisuelle Bogen auf den Boden trifft, bevor er wieder abhebt.
Synch-Points haben natürlich nur Bedeutung im Zusammenhang mit dem Inhalt der Szene und der allgemeinen Dynamik des Films. Als solche geben sie dem audio-visuellen Fluss seine Phrasierung, genauso wie Akkorde und Kadenzen als vertikale Begegnungen von Elementen einer musikalischen Sequenz seine Phrasierung geben. Hierbei gibt es auch den speziellen Fall, den man den „trügerischen Synch-Point“ nennen sollte.“10

Wenn der Titel des Films erscheint, trifft dies mit einem langezogenen Basston zusammen. So wird ein auditiver Akzent auf dem Titel gesetzt, der gleichzeitg eine Veränderung in der Musik markiert. Danach wird die Musik nämlich hektischer.

 

5.3 Die Abdeckmethode nach Chion

Als Methodik zur Analyse des Filmtons schlägt Chion die sogenannte Abdeckmethode vor. Sowohl Ton- als auch Bildspur des zu analysierenden Materials werden separat rezipiert und anschließend wieder zusammen. Hilfreich sind Protokolle von Bild- und Tonspur, um sich Ihrer genauen Beschaffenheit zu vergewissern. So können gut valeur ajoutées ermittelt werden, die bei gleichzeitiger Rezeption von Bild und Ton nur schwer auszumachen sind, da die gegenseitige Durchdringung beider Sinneseindrücke automatisch abläuft. Diesen automatisch ablaufenden Prozess bei der Filmrezeption nennt Chion Synchrèse: „Synchrèse (ein Wort, welches ich durch die Kombination von Synchronizität und Synthese geschmiedet habe) ist die spontane und unwiderstehliche Verbindung, welche durch ein gleichzeitig erscheinendes, teilweises auditives Phänomen und zum anderen Teil visuelles Phänomen gebildet wird.“11

 

Und hier finden Sie noch eine Präsentation, die weitere Informationen zum Filmton enthält. Diese Informationen werden in Zukunft noch wie die Begriffe oben aufbereitet und in die Seite integriert.

 

 

 


 

Quellen:

  1. Chion, Michel 2012 [1991]: Audio-Vision. Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schön, S. 25.
  2. Kersting, Rudolf (1989): Wie die Sinne auf Montage gehen. Zur ästhetischen Theorie des Kinos /Films, Basel: Stroemfelder/Roter Stern, S. 34.
  3. Bullerjahn, Claudia (2001): Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Ort: Verlag, S. 108.
  4. Goldstein, Bruce (2008): Wahrnehmungspsychologie, Ort: Verlag, S. 258.
  5. Claudia Bartoli (Märchen-Erzählerin), zit. nach Rabenalt 2014, S. 71)
  6. Bordwell, David/Thompson, Kristin (2008): Film Art. An Introduction. New York: Mc Graw-Hill Publishing Company.
  7. Audio-Vision – Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schön, 2012 [franz. Orig. 1991], S. 173
  8. Michel Chion, Audio-Vision – Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schön, 2012 [franz. Orig. 1991], S. 173
  9. ebd., S. 28
  10. Michel Chion, Audio-Vision – Ton und Bild im Kino, Berlin: Schiele & Schön, 2012 [franz. Orig. 1991], S. 55
  11. ebd. S. 58
filmanalyse.at